Rezension von Reiner Wild:
EIke Liebs, Kindheit
und Tod. Der Rattenfänger-Mythos als Beitrag zu einer
Kulturgeschichte der Kindheit. Fink, München 1985. 283 S., DM
68,-.
Seit 1384, als zum ersten Mal berichtet wird, dass hundert Jahre zuvor
die Kinder von Hameln einem Flöte spielenden Jüngling
gefolgt und spurlos verschwunden seien, hat es zahlreiche Bearbeitungen
des Rattenfänger-Stoffs
gegeben. Dessen Kern ist der unausweichlich notwendige, scheinbar
natürliche Abschied von der Kindheit und damit das
,,Verhältnis der Generationen
zueinander" (S. 11). In der Radikalität und Unwiderruflichkeit
jedoch, mit der im Rattenfänger-Stoff Kindheit verlorengeht,
wird
dieser Abschied zum beunruhigenden Rätsel.
Die Beunruhigung wird potenziert durch das Moment der magischen Gewalt,
der die Kinder folgen, und durch das Motiv der Ratten, das
Kollektivsymbol des
Unheimlich- Gefährlichen, deren Ausrottung sich im Auszug der
Kinder wiederholt (wobei allerdings die Verknüpfung von
Rattenmotiv und Kinderauszug
nicht von Anfang an gegeben ist, sondern erst zweihundert Jahre nach
der ersten Aufzeichnung auftritt). Die Rätselhaftigkeit wird
zum
Movens der
Bearbeitungen; das Geschehen bedarf der ,Erklärung', durch die
das Beunruhigende plausibel wird. Das scheinbar zufällige, das
in
Hameln geschehen ist, soll als ein
Allgemeingültiges begriffen werden können. Der
Rattenfänger-Stoff wird zum ,Mythos' im Sinne von
Roland Barthes; in den einzelnen Bearbeitungen kommt zur Sprache, wie
Kindheit, Erwachsensein und deren Verhältnis jeweils ,gedacht'
wurden. Dieses Verhältnis aber ist ein historisches; die
Tradition des Rattenfänger-Stoffes ist Teil der Geschichte von
Kindheit und, gewichtiger noch, der ,sekundären' Bearbeitungen
des historisch sich wandelnden Generationsverhältnisses, das
in dieser Tradition, in der stets von ,,Kinderleben mit
tödlichem
Ausgang" (S. 17)
erzählt wird, eng mit der Geschichte des Todes
verknüpft ist. Beides jedoch - Geschichte der Kindheit wie des
Todes - sind Teilprozesse innerhalb des Prozesses der Zivilisation,
in dessen Verlauf in den Jahrhunderten seit dem Geschehen in Hameln
,,in zunehmendem Maß die Welt von Kindern und Erwachsenen
auseinanderdividiert" wurde (S. 17), zugleich jedoch Kindheit und
Erwachsensein auf eine ambivalente Weise aufeinander bezogen sind.
Diesem komplexen Sachverhalt gilt die Arbeit von Elke Liebs, in der zum
ersten Mal die Tradition des Rattenfänger-Motivs umfassend
untersucht wird. Die Reihe der analysierten, nicht allein
deutschsprachigen Texte reicht vom
ersten Bericht in einer Lüneburger Chronik von 1384 bis zu den
Songs und Liedern von heute, etwa denen von Hannes Wader, und zu
gegenwärtigen Dramatisierungen
im Kindertheater. Der weitaus größte Teil der Texte
hat epischen Charakter. Dramatische Bearbeitungen gibt es nur wenige,
gewichtige erst in der Gegenwart (A.
E. Wiede, ‚Die Ratten von Hameln, 1958, vgl. S. 186ff.;
C.Zuckmayr, ‚Der Rattenfänger‘,
1975, vgl. S. 192ff.); sie werden, verbunden mit einem knappen
Rückblick, im Kapitel zum 2o.Jahrhundert behandelt (S.
182ff.). Gleiches gilt für die ,,Rattenfängerlieder"
(S.202ff).
Nach den eher unverbindlich-nostalgischen Balladen des 19.Jahrhunderts
erhält der Rattenfänger-Stoff im 20.Jahrhundert in
der Tradition von Song und Protestlied größeres
Gewicht. In der
Untersuchung der Texte folgt Liebs einer methodisch interessanten
Verknüpfung von Diskursanalyse und kulturhistorischer
Einordnung der Texte. Dies verlangt ein
interdisziplinäres Vorgehen, dem die Arbeit durchweg gerecht
wird. In genauen Analysen werden die literarischen wie die sozial- und
psychohistorischen Bedeutungen der
Texte ,entziffert‘ und damit der latente Sinn aufgedeckt, der
in den Bearbeitungen verborgen ist und jenseits der expliziten
Beschreibung und manifesten Bedeutung stets vom Verhältnis von
Kindheit und Erwachsensein handelt. Die Darstellung eines literarischen
Motivs wird so zum gewichtigen Beitrag zur
Kulturgeschichte der Kindheit. Dabei verzichtet Liebs nahezu
völlig auf den in diskursanalytisch orientierten Arbeiten
häufig anzutreffenden aufgeblähten Begriffsapparat.
Vielmehr hat ihre Arbeit eher essayistischen Charakter; die integrierte
Geschichte von literarischem Motiv und Kindheit wird erzählt.
Damit gelingt es, in den Untersuchungen der einzelnen Texte die
vielfältigen, oft heterogen erscheinenden Bezüge, in
denen erst ihre latenten Bedeutungen sichtbar werden, in einem in sich
geschlossenen Zusammenhang darzustellen. Allerdings würde man
sich gelegentlich doch wünschen, daß die Ergebnisse
energischer in allgemeinere Begrifflichkeit gefaßt
würden, insbesondere bei den Resumées am
Schluß der einzelnen Kapitel. Im Abschnitt zum 20.
Jahrhundert wird auch die Darstellung der Sachverhalte an manchen
Stellen etwas heterogen.
Den Bearbeitungen liegt eine gemeinsame Struktur zugrunde, die aus den
Elementen Verführer (Rattenfänger),
Verführte (Kinder) und Zurückbleibende (Eltern)
besteht. Die Beziehungen zwischen diesen Elementen, zu denen als
viertes der Berichterstatter hinzutritt, lassen sich als ein
Verhältnis von Schuld und Sühne oder auch Rache
bestimmen, innerhalb dessen die Rattenfänger-Figur zum
Repräsentanten des Verdrängten wird. In den
Ausgestaltungen dieses ,,Straf- und Sühnemusters" (S. 61)
werden jedoch Stationen der Geschichte der Kindheit und
darüber hinaus allgemeiner Tendenzen des
europäisch-neuzeitlichen Zivilisationsprozesses sichtbar. So
ist in den Bearbeitungen des späten Mittelalters und der
frühen Neuzeit kaum von Kindern im Sinne einer
,Altersklasse' die Rede; die Kategorie ,Kindheit' bezeichnet viel eher
einen sozialen Status der Abhängigkeit. Das ,,Straf- und
Sühnemuster" ist deshalb insbesondere von den Konflikten
frühkapitalistischer Arbeits –und
Geldverhältnisse (2.8. in der Zimmer‘schen Chronik
von 1557, vgl. S. 48ff.) und, sichtbar in der Gestaltung der Motive
Musik und Tanz (vgl. v. a. S. 5 8 ff.), von den sozialpsychologischen
Konflikten bestimmt, die sich aus der zivilisatorischen Tendenz zur
Disziplinierung des Individuums und der ,,kollektiven] Triebregelung"
(S. 59) ergeben.
Mit der Aufklärung vollzieht sich im 18.Jahrhundert
ein grundlegender Wandel. Die bisher eher soziale Kategorie
,Kindheit' wird zur psychologischen; das bestimmende Moment
im Generationenverhältnis heißt fortan ,Erziehung',
in der es wesentlich um die Überwindung vermeintlicher
Mängel der Kinder geht: ,,Kindheit wird jetzt identisch rnit
einem komplexen Defizit all der Tugenden, die das aufstrebende
Bürgertum sich abringen zu müssen meint" (S. 6:).
Das Auseinandertreten von Kindsein und Erwachsensein bestimmt die
weitere Geschichte von Kindheit wie die der Bearbeitungen des
Rattenfänger-Stoffes. ,Kindheit' kann damit immer mehr zu
einem
imaginären, von den
Projektionen der Erwachsenen bestimmten Ort werden. So gestaltet
Clemens Brentano, wie Liebs in
der Analyse des ,Märchens vom Rhein und dem
Müller Radlauf' (S.55ff.) zeigt,,,kompensierend eine ganze
Skala von Kindheitsebenen und Kindheitsformen" (S. 68), die als Absage
an das reale Erwachsensein zu verstehen sind.
Kindheit wird zu einem gleichermaßen von Regression und
Utopie bestimmten Sehnsuchtsbild, das sich, in Verbindung mit den
Motiven Tod und Wiedergeburt, als
,,eine Art intrauterinäres Aufgehobensein ohne
Bewußtsein und Verantwortung" (S. 7r) beschreiben
läßt; die Sehnsucht richtet sich auf die
,,Möglichkeit eines Daseins vor Begehren und Gewalt" (S.72).
Bei
Brentano wird die Dialektik des von
der Aufklärung in Gang gesetzten Erziehungsprozesses
aufgedeckt: daß die Erziehung zum
vernünftig-selbstkontrollierten Menschen notwendig mit der
Etablierung eines Autorität und Gewalt ausübenden
Über-Ich einhergeht. Die ,,Idee Kindheit", in der - gegen die
gegebenen Verhältnisse - ,,Kindheit
außerhalb jeden gesellschaftlichen Zwangs" (S. 125)
angesiedelt erscheint, ist für eine Reihe von Bearbeitungen im
19.Jahrhundert bestimmend; ein Höhepunkt dieser Entwicklung
ist die 1886 erschienene, von Kate Greenaway illustrierte Ausgabe der
Verserzählung ,The Pied Piper of Hamelin' (zuerst 1842) von
Robert
Browning (vgl. S. 112ff.).
Dieser Tendenz komplementär sind diejenigen Bearbeitungen,
z.B. die Erzählung ,Die Wunderpfeife' (1835) von
Gustav
Nieritz (vgl. S. 86ff.), in denen das
Moment der Gewalt zentral ist und damit, durchaus gegen die Intentionen
der Autoren, das in der Erziehung vollzogene Opfer der Kinder zur
Darstellung kommt. Das Moment
der Gewalt, verbunden mit dem Motiv des Kinderkreuzzugs und amalgamiert
mit nationalistischen Ideologemen, bestimmt auch die Bearbeitungen in
der
ersten Hälfte des 20.Jahrhunderts. In diesen Texten vom
,,kollektiven Kinder-Sterben" (S. 176), deren ,Realität' etwa
Langemarck heißt und
in denen der Rattenfänger vom Ver[ührer zum
,Führer' wird, verdichten sich ,,Wiedergeburts- und
Erlösungsphantasien" (S. 175), deren Funktion die
Verdrängung der strukturellen Gewalt ist, die dem
Erziehungsverhältnis eingeprägt ist. Erst in der
Gegenwart deutet sich in den Bearbeitungen, vor allem in Liedern und
Songs, ein anderes Verhältnis der Generationen an. Der
Rattenfänger-Stoff wird ,entmythologisiert'. In
diesen neuesten Bearbeitungen, auch den von Kindern verfaßten
(vgl. S. 219ff .), wird eine Mentalitätsveränderung
sichtbar, in deren Folge Kindheit und Erwachsensein nicht mehr radikal
voneinander getrennt und ,,Kindheit nicht gleichbedeutend mit
Unmündigkeit zu sein braucht" (S. 228).
Universität des Saarlandes
Fachbereich 8.1 Germanistik
D-66oo
Saarbrücken
Reiner Wild publ. 1988)
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